Trier-Meisterwerk "Melancholia": Apokalypse. Wow! (2024)

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Was hat Lars von Trier seinen weiblichen Hauptfiguren nicht schon alles zugemutet, hat sie misshandeln und vergewaltigen lassen, sie so beschämt, bis sie sich selbst das Geschlecht verstümmelten. Trotzdem war eine Option immer noch furchteinflößender als all diese Gewalt: Was passiert, wenn Trier Mitleid mit seinen Frauenfiguren hat? Welche Energie kann dieser rücksichtslose Regisseur entfalten, wenn er sich in sie hineindenkt, sich mit ihnen identifiziert, ihr Leid aus der Binnenperspektive darstellt? "Melancholia" ist der Film, in dem Trier Mitleid mit seinen Frauenfiguren hat. Und die Wucht, die dieser Perspektivwechsel mit sich bringt, ist unvergleichlich.

Der erste Teil "Justine", benannt nach der Figur von Hauptdarstellerin Kirsten Dunst, spielt am Abend ihrer Hochzeit. Schon die Anfahrt zum herrschaftlichen Gut der Schwester, wo die Feier stattfinden soll, gestaltet sich schwierig. Die Limousine des Brautpaars ist zu groß für die engen Wege, weder Chauffeur noch Braut und Bräutigam können den massigen Wagen aus den Haarnadelkurven herausbewegen. Zu Fuß, mit mehreren Stunden Verspätung, erreicht das Brautpaar schließlich die eigene Feier. Doch dort zeigt sich, dass äußerliche Hindernisse die geringsten Schwierigkeiten an diesem Abend sein werden. Innerhalb weniger Stunden wird die Braut ihr bisheriges Leben zerstört haben. Sie wird allen anwesenden Menschen auf unverzeihliche Weise vor den Kopf stoßen. Sie wird es mutwillig und gnadenlos tun - und doch seltsam unbeteiligt dabei sein.

Als sein Horrorfilm "Antichrist" 2009 in die Kinos kam, sagte Lars von Trier, mit diesem Film hätte er seine Depressionen bekämpft. Doch erst in "Melancholia" thematisiert er die Krankheit an sich. Sie müsse zum Teil ihn selbst spielen, sagte Trier seiner Hauptdarstellerin zu Beginn der Dreharbeiten. Dass auch Dunst unter Depressionen leidet, wusste er zu diesem Zeitpunkt nicht, und wahrscheinlich ist es für den Film auch unerheblich, denn wie Dunst die Justine spielt, ist jenseits aller persönlichen Betroffenheit herausragend. Zu Recht wurde siein Cannes in diesem Jahr als beste Hauptdarstellerin geehrt - und hätte sich Trier in Cannes nicht durchseine dämlichen Kommentare zu Hitler um Kopf und Kragen geredet, hätte er selbst wahrscheinlich auch den Regiepreis gewonnen.

Die Freude wird nie mehr wiederkommen

Wobei man es schon fast nicht mehr Spielen nennen kann, was Dunst in "Melancholia" macht, denn eigentlich löscht sie ihre Figur aus. Sie nimmt ihr die Gesten, die Worte und die Körperspannung, bis Justine nur noch ein Schema zu sein scheint. Als sie schließlich bei ihrer Schwester Unterschlupf findet, kann sie kaum mehr alleine gehen. Und als die Schwester ihr das Lieblingsessen serviert, lässt es Justine nach einem Bissen wieder aus dem Mund in eine Serviette fallen. "Es schmeckt wie Asche", sagt sie und bricht in Tränen aus. Sie weiß, welche Freude ihr das Essen einmal bereitet hat - und dass sie diese Freude nie mehr spüren wird.

Trier-Meisterwerk "Melancholia": Apokalypse. Wow! (1)

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"Melancholia": Lars von Triers depressives Meisterwerk

Foto: Concorde

Es ist aber keine einfache Krankheitsgeschichte, die Trier in "Melancholia" erzählt, denn er nimmt eine wichtige Umdeutung vor: Die Depression verstellt Justine nicht den Blick auf die Welt, sie verleiht ihr vielmehr eine neue Hellsichtigkeit. Als am Himmel ein neuer Planet, der titelgebende Melancholia, auftritt, ist Justine die Erste, die versteht, was das für die Erde bedeutet - nämlich die Kollision, den Weltuntergang.

An diesem Punkt setzt der zweite Teil ein, "Claire", benannt nach Justines Schwester (Charlotte Gainsbourg, gewohnt großartig). Im Gegensatz zu ihrer Schwester hängt Claire an ihrem Leben und an der Welt überhaupt, und je näher Melancholia kommt, desto weniger will sie wahrhaben, dass es mit der Welt zu Ende gehen wird. Als der neue Planet fast den ganzen Himmel ausfüllt und es nichts mehr zu leugnen gibt, krallt sie sich wie wild an den Resten ihres großbürgerlichen Lebens fest: Ob man im entscheidenden Moment nicht auf der Terrasse sitzen sollte, bei schöner Musik und einem guten Glas Wein? "Die Erde ist böse", sagt Justine daraufhin. "Wir müssen nicht um sie trauern."

So armselig wurde selten gestorben

Leicht hätte Trier Claire und ihren verzweifelten Lebenswillen der Lächerlichkeit preisgeben können, doch auch ihre Geschichte erzählt er mit Mitleid und Feingefühl. Eine mögliche Erklärung, warum Trier seinen Frauenfiguren so zusetzt, war stets, dass er Frauen interessanter findet als Männer. "Melancholia" kann man als Beweis dieser These sehen, denn in den letzten Tagen der Erde spielen Männer keine Rolle mehr. Schlimmer noch: So armselig, wie Claires Ehemann (ausgerechnet dargestellt von Kämpfertyp Kiefer Sutherland) sein Ende findet, ist selten ein Mann im Kino entsorgt worden.

Solche expliziten Szenen sind aber selten in "Melancholia". Fast gänzlich verzichtet Trier auf derbe Pointen und Bilder der Überwältigung. Selbst sein schräger Humor findet sich nur noch in Andeutungen wieder, etwa wenn auf einem Golfplatz ein 19. Loch auftaucht. Der Effekt ist trotzdem erschütternd: Seht her, scheint der vormalige Kinokraftprotz Trier sagen zu wollen, ich habe zwar noch Muskeln, aber keine Energie mehr, sie anzuspannen.

Nur anfangs zeigen Trier und sein Kameramann Manuel Alberto Claro einen Reigen aus atemberaubenden Tableaus, unterlegt mit dem Prélude aus Wagners "Tristan und Isolde". Hier sieht man zum ersten Mal den Himmel, in dem zwei Monde gleichzeitig scheinen, und auch das Bild von Justine, wie sie von dichten, grauen Wollfäden gefesselt ist und sich nicht fortbewegen kann, ist unvergesslich. Doch wie Justine löscht sich auch der Film im Verlauf selbst aus. Die Bilder werden flüchtiger, die Szenen elliptischer, die Bedrohlichkeit des Weltuntergangs überträgt sich immer mehr allein akustisch, denn ab dem letzten Drittel hört man im Hintergrund konstant ein nervöses Pferdewiehern.

Am Ende weiß man selbst nicht mehr, was an dieser Welt noch rettenswert sein soll. Und als Melancholia schließlich den ganzen Himmel einnimmt, spürt man wie Justine vor allem eines: Erlösung. Gewaltigeres kann ein Film nicht leisten.

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